„Sofort waren viele Menschen da, die den Flohmarkt mit buntem Leben füllten“
Jörg, was fasziniert Dich an Flohmärkten und kannst Du Dich noch an Deinen ersten Markt erinnern?
Jörg Grützmann: Meinen ersten Flohmarkt habe ich in Paris erlebt, an der Seine. Wahnsinn, verrückt. 1972. Es war ein wilder Flohmarkt, ohne Struktur, ohne Veranstalter, dafür aber mit hunderten von Katzen. Jede/r kam wie er/sie wollte; viele Künstler boten Porträtskizzen an. Ich habe auch ein Porträt machen lassen. Dieser Bereich von Paris hat mich magisch angezogen, wahrscheinlich geprägt.Selbst war ich Flohmarktverkäufer von 1980 bis 1983 auf dem Schlossplatz sowie von 1987 bis 1988 auf dem Flohmarkt in Wechloy. All dies ist in lebendiger Erinnerung!
Dem Flohmarktstandort Oldenburg-Wechloy bist Du auch nach 1988 bis heute treu geblieben, aber in einer anderen Rolle als Veranstalter zusammen mit Wolfgang Schnupper. Wie kam es dazu?
Jörg Grützmann: 1989 haben wir, weil wir den Untergang des Sonntagsflohmarktes befürchteten, den „Förderverein Wechloy für sonntägliche kommunikative Freizeitkultur e.V.“ gegründet. Wir wollten durch Unterstützung des Marktes, durch kulturelle „Events“ den Markt „aufpeppen“, attraktiver machen, retten und erhalten. Wir haben über ein Jahr lang an dem Konzept gearbeitet.
1991 gab uns die Stadt Oldenburg die Chance, den Markt komplett zu übernehmen, aber nur viermal im Jahr, wir sollten ein genaues Konzept vorlegen, was eigentlich nur den Flohmarkt selbst (ohne zusätzliche Events) betraf. In einer Sitzung im Winter 1991/1992 haben Wolfgang und ich unsere GbR gegründet.
Euer Start als Flohmarktveranstalter war dann also im Frühjahr 1992. Was ist das für ein Gefühl, wenn man zum allerersten Mal solch ein großes Event mit vielen 1.000 Besuchern veranstaltet? Hat man da vorher Sorgen und Bedenken, gar schlaflose Nächte oder überwog einfach die Vorfreude?
Jörg Grützmann: Wir hatten zunächst Ängste, ob alles gut geht. Die Vorfreude auf das Neue überwog allerdings sofort. Ich persönlich war mit voller Motivation dabei, was Neues aufzubauen, was uns gemeinsam gelang, was aber damals nicht abzusehen war.
Schlaflose Nächte hatten wir nicht – der Start war grandios. Wir wurden dadurch belohnt, dass sofort viele Menschen da waren, die den Flohmarkt mochten, ihn gleich mit buntem Leben füllten. Es ging alles sehr leicht, nach den Monaten der Arbeit, die uns ebenfalls sehr leicht fielen. Plötzlich waren die Menschenmassen da – gleich beim ersten Markt: da wussten wir, dass es klappen würde!
Diese „Leichtigkeit“ war aber sicherlich auch vor knapp 20 Jahren nicht selbstverständlich, ebenso wenig, dass die Menschen sofort den Markt mochten. Lag es auch an dem besonderen „Standort Wechloy“ und kann man sagen, dass dieser Platz auch heute noch mit ausschlaggebend für den Erfolg der Flohmärkte ist?
Jörg Grützmann: Anfang der 1990er Jahre befand sich alles im Umbruch, in einer „Neufindungsphase“. Nach dem viele Demonstrationen gegen Atomkraft und zur Volkszählung 1987 Riesenzulauf hatten, wurden die Bürger lebendig, interessiert, nicht alles hinzunehmen. Durch das Flohmarktverbot 1988 in Wechloy waren wir alle aufgekratzt, dass wir sicher auch da noch was ändern könnten. Wir wollten das staatliche Gebot nicht einfach so hinnehmen, sondern hinterfragen, und dies mit den örtlichen Behördenvertretern diskutieren, was hervorragend gelang. Das war der Anfang, neben vielen phantasiereichen Aktionen, die durchaus aus dem Wendland (Anmerkung: Die Region rund um das Atomendlager Gorleben) abgeguckt waren. Das hat den Leuten sehr gefallen.
Auch die Polizei war vor Ort, aber auch die Nordwest Zeitung. Die NWZ hat uns mit tollen Berichten begleitet. Es gab Situationen, da mussten Behördenvertreter, Polizei und wir als „ungehorsame Bürger“ gemeinsam intensiv lachen, und so haben wir uns angenähert. Diese phantasiereichen Aktionen in Verbindung mit einem guten Flohmarkt, das hat die Leute begeistert. Viele heutige Besucher kennen noch die zum Teil lustigen Aktionen der Anfänge unserer Flohmärkte. Deswegen und wegen anderer Dinge sind uns die Menschen treu geblieben.
Mit den Flohmärkten bietet Ihr ja ein Forum an, bei dem gute und gebrauchte Gegenstände den Besitzer wechseln und nicht einfach auf dem Müll landen. Letztlich ist das praktizierter Umweltschutz, an dem auch Leute mit schmalen Geldbeuteln beteiligt sind. Steckt dahinter der Reiz, Märkte aus sozialer und ökologischer Motivation heraus zu organisieren?
Jörg Grützmann: Es ist genau eine unserer Ideen, die Flohmärkte zu veranstalten. Als aktiver Umweltschützer weiß ich, dass für jedes neue Produkt eine erheblich höhere Energiemenge aufgewendet werden muss, als wenn man ein altes Gerät reparieren lässt und weiter nutzt. Das will die Wirtschaft natürlich nicht so gern hören, weil da ja am laufenden Band immer wieder was Neues auf den Markt geworfen wird, um das Karussell am Laufen zu halten. Wir leben zwar im 21. Jahrhundert, aber denken wir doch mal kurz an die 1950er Jahre zurück: Was wurde da eigentlich weggeworfen? Praktisch nichts. Darüber kann man lachen und sagen, ich will heute nicht mehr mit dem Zeug der 50er leben.
Aber es ist eine Sache der Einstellung, sich auch im 21. Jahrhundert mit gutem, einfachen Material zu umgeben und dies so lange wie möglich zu nutzen, auch, wenn es mehrfach repariert werden muss. Mein Auto zum Beispiel ist über 16 Jahre alt. Mit einem Neuen zu fahren, mag etwas CO2 einsparen; der CO2-Ausstoß bei der Produktion eines neuen PKW ist so immens, dass es nie die Bilanz eines Alten verbessern kann. Das ist erwiesen; es sagt nur keiner. Daher bin ich für den Weiterhandel auch von kleinen Dingen des täglichen Gebrauchs, was auf unseren Märkten in Massen gut gelingt.
Und außerdem: Warum sind denn heute so viele Leute überschuldet? Weil sie dem trügerischen Glanz des Neuen immer wieder unterliegen und kaufen, kaufen, kaufen!
Aus all diesen Gründen finde ich Flohmärkte, aber auch Verschenkmärkte oder Gebrauchtwarenläden grandios: Gute alte Dinge zu erhalten und weiter zu nutzen, ist praktizierter Umweltschutz und schont den Geldbeutel zugleich!
Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren rasant verändert. Neben der sogenannten Globalisierung, die ja Mitverursacherin dafür ist, dass bestimmte Produkte in den Geschäften zu Kampfpreisen angeboten werden, gibt es den Online-Handel, unter anderem mit gebrauchten Gegenständen. Stichwort: Ebay! Spürt Ihr die Auswirkungen in Form von wenigeren Besuchern bzw. Verkäufern? Hat sich der Flohmarkt generell verändert?
Jörg Grützmann: Ha! (lacht). Auf die Frage habe ich schon gewartet. Mein Bruder hat mir schon wegen des Onlinehandels das Ende unserer Flohmärkte prophezeit. Es ist eben genau nicht so. Ebay hat den Handel mit gebrauchten Gegenständen nicht aufgeteilt, sondern erweitert. Es sind online vor allem zahlreiche Schnäppchenjäger und Sucher unterwegs, die sonst in den Geschäften nach Billigem schauen. Auch Ebay hat seinen Anteil am praktizierenden Umweltschutz: Hierdurch werden ebenfalls gebrauchte Gegenstände weitergegeben und nicht auf den Müll gebracht. Das ist gut. Unser Flohmarkt ist da allerdings anders geblieben. Gerade hier spürt man von globalem Handel wenig. Es sind zwar Menschen der unterschiedlichen Nationen bei uns -und das ist auch sehr gut so- aber die wollen den Flair des Flohmarktes direkt spüren. Also mehreres zusammen: Viel los, Menschen, frische Luft, um Preise handeln und Schnäppchen einheimsen. Flohmärkte faszinieren und fesseln eben durch ihre Art, das ist was ganz anderes als mal zwischendurch ein Objekt bei Ebay zu schießen. Ebay erweitert nur den Handel mit Gebrauchtem, die Flohmärkte werden durch Ebay nicht verändert.
Das hört sich ja positiv an. Trifft das Deiner Meinung nach auch auf die Zukunft zu? Glaubst Du, dass es die beliebten Sonntagsflohmärkte im Nordwesten auch noch in zehn oder 20 Jahren in der heutigen Form geben wird?
Jörg Grützmann: Die Frage ist für mich rein spekulativ zu beantworten, weil man ja nie weiß, ob die Rahmenbedingungen zum Beispiel der großen Verbrauchermärkte so bleiben. Was ist, wenn sich in der Zukunft die Sonntagsöffnungen durchsetzen? Der Sonntag als Ruhetag fällt? Eine grauenhafte Vorstellung, nicht nur, weil dann unsere Flohmärkte nicht mehr stattfinden könnten, da die Verbrauchermärkte die Parkplätze dann ja benötigen würden. Ich bin aber zuversichtlich, dass die meisten Menschen vernünftig bleiben und der Druck, auch noch sonntags rund um die Uhr einkaufen zu wollen, nicht zu groß wird. Unterschiedliche Gruppen drängen ja nach Art der Salamitaktik ständig nach. Es ist aber eher nur eine kleine Minderheit. Die Mehrheit der Menschen will den Sonntag als arbeitsfreien Tag, als freien Tag vom Alltag, erhalten. Dass auf Flohmärkten auch ge- und verkauft wird, hat dann aber mehr mit dem Freizeitvergnügen zu tun, was ich vorhin schonmal in einer anderen Antwort zum Ausdruck brachte.
Der Sonntag bleibt uns als Pause im Wochenalltag erhalten, auch auf Dauer. Deswegen wird es nicht nur in 10 oder 20 Jahren Flohmärkte im Nordwesten geben, sondern auch darüber hinaus.
Du beschäftigst Dich unter anderem als Buch-Autor mit dem Wetter und fertigst auch Wetteraufzeichnungen an. Hat sich das Flohmarktwetter in den letzten 20 Jahren spürbar verändert und kannst Du einen Ausblick für die Zukunft wagen?
Jörg Grützmann: Seit meiner Kindheit beschäftigt mich das Wetter. Mein Opa hatte einen großen Obst- und Gemüsegarten, er hat mir eigentlich alle Entwicklungen des Jahres ganz einfach erklärt. Das ist haften geblieben. Mein Lebensinhalt -neben Beruf und Flohmarkt- sind die Jahreszeiten und was das mit uns und der Natur macht. Ich fühle mich in jeder Jahreszeit sauwohl – Hauptsache, sie wechselt. Seit frühen Kindesbeinen an schrieb ich einfache Wetterbeobachtungen auf, wie Tagestemperatur, Niederschläge und Sonnenstunden. Das mache ich bis heute; ich kann auf eine enorm lange Reihe an Wetterbeobachtungen zurückblicken. Als wir 1992 mit den Flohmärkten anfingen, hatten wir noch Glück: Die damals noch überwiegend von kontinentalen Einflüssen geprägten Frühjahre und Sommer waren trocken und warm. Seit etwa 1995 ist das anders geworden.
Wir haben oft warme Winter, die in einen viel zu kalten März münden, der dann auch noch ergiebige Regenfälle bringt. Daher versuchen wir mehr und mehr, aus dem März als Veranstaltungsmonat herauszugehen. Da wird bald der November attraktiver als der März: Oftmals seit vielen Jahren gibt es dann wunderschöne „Altweibersommertage“, die an den goldenen Oktober erinnern. Klar ist: Es verschiebt sich derzeit etwas, und es verschiebt sich weiter. Vorhersagen werden eher noch schwieriger.
Wir danken Jörg Grützmann für die Antworten. August 2012. (jk)